Freitagspredigt

Zum Jahreswechsel

بِسْمِ اللهِ الْرَّحْمَنِ الْرَّحِيمِ

وَالْعَصْرِ  إِنَّ الْإِنسَانَ لَفِي خُسْرٍ إِلَّا الَّذِينَ آمَنُوا وَعَمِلُوا الصَّالِحَاتِ وَتَوَاصَوْا بِالْحَقِّ وَتَوَاصَوْا بِالصَّبْرِ

Bismillāhirrahmānirrahīm
[Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen]
“Bei der Asr-Zeit. Die Menschen sind wahrhaft in Verderbnis. Ausgenommen jene, die glauben und einander das Gute wie die Geduld anraten.”

[Sure Asr]



Verehrte Gläubige,

ein weiteres Jahr liegt nun bald hinter uns, und damit auch ein weiteres Jahr unserer Lebenszeit. Die einen erblickten hier das Licht der Welt und traten damit ihre Prüfung an. Die anderen haben dieses Kapitel geschlossen und sind von uns gegangen. So manches Leid hat der Mensch in diesem Jahr erfahren. Vielleicht hat der Erhabene sie nur prüfen wollen damit. Manchen hat Er gegeben, um zu sehen ob sie auch danken. Den anderen hat er genommen, um zu sehen ob sie geduldig sind. Manchen von uns musste der Arzt sagen, dass er unheilbar krank ist. Mit dieser Nachricht ist eine Welt zusammengebrochen für sie. Das eigentliche Unheil liegt für den Menschen jedoch darin, die andere Welt zu vergessen, das Jenseits. Wenn er vergisst, dass das vergängliche Erdenleben ihm nur ein Spiel und Zeitvertreib [1] ist.

Es gab auch viele Freuden im letzten Jahr. Manche haben sich über ihre Gehaltserhöhung gefreut. Die anderen über ihr neues Auto, den Schulabschluss ihres Kindes. Und da gab es noch solche, die sich auf eine ganz andere Art gefreut haben: Weil morgens etwa ihr Haus noch stand und nicht durch eine Bombe eingestürzt war. Weil sie keine Kugel getroffen hat im Kugelhagel. Weil die Luft, die sie eingeatmet haben, nicht mit Giftgasen durchsetzt war. Weil sie sich in ihrer Welt, die nach Blut und Schießpulver riecht, noch darüber freuen konnten, dass ihnen noch ein Fuß erhalten blieb, auch wenn sie den anderen verloren haben. Manche konnten sich freuen, weil sie nicht wie hunderttausende anderer Menschen den Hungertod fanden; und dies in einer Welt, die heute vielleicht so reich ist wie noch nie seit ihrer Schöpfung.

Andererseits haben wir im letzten Jahr auch vergessen können, dass es so viele schöne Dinge gibt, über die wir uns freuen können und waren traurig. Wir waren traurig, weil wir Übergewicht haben, oder weil wir nur ein altes Auto haben. Weil wir abends vielleicht schon wieder dasselbe gegessen haben. Wir waren traurig, weil wir nicht die passenden Schuhe zu unserer Garderobe gefunden haben, obwohl es so viele Menschen gibt, die vielleicht noch nie in ihrem Leben ein Paar Schuhe besaßen. All die Gaben, die uns Allah geschenkt hat: statt zu danken hierfür, sind sie uns Anlass zur Klage geworden, weil unsere Wahrnehmung für die Dinge aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Wir haben unsere Ohren zugehalten und wollten sie nicht hören, die Ermahnungen Allahs. Dem Koran haben wir uns insgesamt verschlossen. Ihn nur für unsere Verstorbenen vorgetragen und uns damit etwas vorgemacht. Dabei ließ Er uns hier wissen: „Wir sandten diesen Koran an die Lebenden, auf dass er sie ermahne…“ [2]

Er hat uns eigentlich gewarnt, dass wir uns nicht blenden lassen von der trügerischen Welt: „Wenn euch eure Vorfahren, eure Söhne, eure Geschwister, eure Ehepartner, euer Stamm und euer Hab und Gut, euer Handel, um den ihr fürchtet, und eure Häuser, die euch so gefallen, wenn euch all dies lieber ist als Allah und Sein Prophet, lieber noch als auf Seinem Weg zu dienen, dann wartet, bis der Befehl Allahs euch ereilt. Allah wird die Gemeinschaft der Frevler nicht auf den rechten Weg leiten.“ [3] Doch wir, wir wurden zu Geißeln irdischer Güter. Die Gaben dieser Welt, sie sind uns eigentlich gegeben, damit wir unser eigenes Auskommen damit bestreiten und auch all die Bedürftigen bedenken. Wir aber, wir haben uns damit zu den Armseligen gesellt, die ihr Geld wieder und wieder zählen und anhäufen. [4]

Der wahre Besitzer der Zeit aber, Er gemahnt uns nicht zu den Verlierern zu gehören und uns gegenseitig zur Wahrheit anzuraten und zur Geduld und den Glauben zu schmücken mit guten Taten. [5] Diejenigen, die Gefangene sind ihrer eigenen Begierden, sie fragt Er im Koran: „Wie viele Jahre seid ihr auf der Erde geblieben?“ [6] Sie antworten: „Einen Tag, oder etwas länger als einen Tag.“ [7]

Verehrte Gläubige,

die Zeit rinnt davon… Wir sind alle jünger oder älter. Wenn wir zurück blicken, kommt es uns vor, als wären wir gestern noch Kinder gewesen. In diesen Tagen, neigt sich nun ein weiteres Jahr dem Ende zu. Ein weiteres Jahr, in dem wir uns vorbereiten konnten auf das Jenseits oder auch nicht, je nachdem. Und wenn wir nicht zu jenen gehören, die ihre Wegzehrung vorbereiten konnten mit ihrer Frömmigkeit, [8] können wir uns da auf den Ausklang des Jahres freuen? Daher sollten wir in diesen Tagen vielmehr zurück blicken auf das letzte Jahr, um zu sehen, was wir im nächsten anders machen müssen?

Verehrte Muslime,

auch für das Feiern und das Vergnügen gibt es im Leben der Gläubigen einen Platz. Dies muss aber im Rahmen des religiös erlaubten geschehen. Den Glauben und die Werte der Anderen haben wir als Gläubige und auch als Mensch zu respektieren. Nur müssen wir für uns selbst genauer hinschauen: Gläubige müssen sich wohl überlegen, ob es für sie angebracht ist über eine Vergnügungskultur religiöse Elemente und Handlungen zu übernehmen, die mit der islamischen Glaubenslehre nicht übereinstimmen.

Zum Abschluss meiner heutigen Ansprache gelten meine Gebete einem neuen Jahr, in dem Geschwisterlichkeit herrscht und die Menschheit wieder lernt, sich zu erbarmen. Möge Unrecht und mögen die Tränen ein Ende finden, möge wieder Gerechtigkeit einziehen und eine Gesellschaft sich herausformen, in der das Teilen und das Geben im Dienste Allahs (infaq) ein Wert ist, der auch gelebt wird.

[1] Ankebut, 64
[2] Yasin, 70
[3] Tawba, 24
[4] Humaza, 102
[5] Asr, 1-3
[6] Mu’minun, 112
[7] Mu’minun,113
[8] Bakara, 197.

Yusuf DİKMEN
Relıgıonsbeauftragter der DITIB Zentralmoschee in Recklinghausen

2013-12-27    


Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung der DITIB reproduziert, vervielfältigt oder verarbeitet werden.

Archiv 2007-2008  | 2009-2010