Freitagspredigt

Anstandsregeln im Islam - Ādāb und Hayāʾ

بِسْمِ اللهِ الْرَّحْمَنِ الْرَّحِيمِ

وَلَا تَمْشِ فِي الْاَرْضِ مَرَحًا اِنَّكَ لَنْ تَخْرِقَ الْاَرْضَ وَلَنْ تَبْلُغَ الْجِبَالَ طُولًا

Bismillāhirrahmānirrahīm
[Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen]
“Und wandel auf Erden nicht herum überheblich. Denn du kannst (mit deinem Gewicht und deiner Größe) weder die Erde aufreißen, noch (mit deiner Länge) erreichen die Erhabenheit der Berge.”

[Sure Isrāʾ, Vers 37]

Verehrte Muslime,

zwei weitere Begriffe, zu denen uns der Islam immer wieder anhält, sind Anstand und Schamgefühl – ādāb und hayāʾ. Ādāb ist die Vornehmlichkeit beim Menschen, sein Anstand, der ihn Wort und Tat abwägen lässt, bevor er von diesen Gebrauch macht. Der ihn im Umgang mit den Menschen bedacht um die Regeln dieses Anstands vorgehen lässt. Und der schließlich so sehr Teil seiner wird, dass ihm dieser Charakter Schutzschild ist vor allerlei Übel. [1] Hayāʾ hingegen ist das Schamgefühl, das sich einstellt beim Gläubigen, wenn gegen diese Anstandsregeln des Ādāb verstoßen wird. Es ist die Scham, die man verpürt, wenn gegen Sitte und Moral verstoßen wird und wenn Worte und Taten gesichtet werden, die den Geboten des Islam zuwiderhandeln. [2]

Verehrte Gläubige,

Allah schuf den Menschen auf die schönste Art und Weise und sandte ihm Propheten und mit diesen Offenbarungsschriften, auf dass sie ihnen den rechten Weg weisen im Erdenleben. Insbesondere hatten die Gesandten stets den Auftrag, den Menschen charakterlich zu formen, ihn hier zu vervollkommnen. So sagte unser Prophet (saw) selbst: “Ich bin gesandt, um den guten Charakter zu vervollkommnen.” [3] Und ein solcher guter Charakter, ausgedrückt in Ethik und Moral, aber auch im Schamgefühl wie beschrieben, dem hayāʾ, ist es, der uns das Wohlwollen Allahs einbringen wird. So heißt es in einem Hadis: “Und am Tage des Richtens wird es der gute Charakter sein, der am schwersten wiegen wird auf der Waage des Gläubigen.” [4]

Verehrte Brüder und Schwestern,

ādāb und hayāʾ stehen in direkten Zusammenhang mit dem Glauben, dem īmān, und werden sogar als direkter Ausdruck dessen angesehen: “Der īmān kennt mehr als siebzig Grade. Der höchste Grad ist das Aufsagen von ‘La ilahe ilallah’. Der niedrigste Grad lässt den Menschen etwas aufheben von der Straße, was andere Menschen hier stört. Und auch das Schamgefühl ist Ausdruck des īmān.” [5] In ihrer schönsten Form sollte uns diese Scham ehrfürchtig abhalten von Handlungen, die Allah uns verboten. Und so sagt sie uns und unseren Mitmenschen auch etwas aus über den Stellenwert, den wir bei Allah haben.

Verehrte Muslime,

unser Prophet (a.s.) hatte die Gabe, sich kurz und prägnant auszudrücken. In einem dieser Fälle, in dem er den Grundinhalt des Islam komprimiert ausdrücken wollte, sagte er: “Der Islam besteht aus dem guten Charakter.” [6] Und so sollten Muslime stets bemüht sein, ihren Charakter zu vervollkommnen, sich zu kleiden mit dem guten Charakter, wie ihn der Islam beschreibt und damit einfordert. Unsere Persönlichkeit reift bekanntlich mit der Erziehung, die wir genießen. Perfekt ist diese Erziehung aber erst dann, wenn sie auch die Werte vermittelt, wie wir sie heute mit dem Zwillingspaar ādāb und hayāʾbeschrieben haben. Ganz im Sinne eines weiteren Hadis unseres Propheten (saw), in dem er uns wissen ließ: “Der Vollkommenste unter den Gläubigen ist derjenige, der den schönsten Charakter hat.” [7]

Verehrte Brüder und Schwestern,

so sehr ādāb und hayāʾ auch Werte sind, die wir pflegen und befolgen müssen, so müssen wir sie auch und gerade weiter geben an unsere Kinder. Und auch hierdrin hören wir unseren Propheten (saw) uns ermahnen: “Kein Vater kann seinem Kind ein schöneres Geschenk geben, als eine gute Erziehung.” [8]

Im selben Maße müssen wir dann auch meiden Handlungen, die nicht korrespondieren mit Anstand und Schamgefühl wie beschrieben. Denn hiervon hängt nicht nur das Wohlwollen Allahs ab, sondern auch das Ansehen und der Ruf, den wir in der Gesellschaft genießen werden.

Meine Predigt möchte ich an dieser Stelle beenden mit dem eingangs vorgetragenen Vers: “Und wandel auf Erden nicht herum überheblich. Denn du kannst (mit deinem Gewicht und deiner Größe) weder die Erde aufreißen, noch (mit deiner Länge) erreichen die Erhabenheit der Berge.” [9]


[1] M. Zeki Duman, Âdâb-ı Müaşeret ve Görgü Kuralları, 19-21.
[2] Ömer Nasûhi Bilmen, Büyük İslam İlmihali, 459.
[3] Mālik, Muwatta, Husn al-Chulūq, 8, II, 903.
[4] Riyâzu’s-Salihîn Tercemesi, II, 564.
[5] Buchārī, Īmān, 3; Muslim, Īmān, 57, 58.
[6] Kenz al-Ummāl, 3/17, Hadis No: 5225.
[7] Riyazü’s-Salihîn, II, 565
[8] Tirmizī, Birr, 33.
[9] Isrā, 17/37.

Nagihan Kocadağ
Religionsbeauftragte der DITIB-Moschee in Dinslaken
2013-03-15    


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